Das Berliner OXFORD in Dahlem
Wissenschaftsstandort Dahlem (Teil 1)
Heute möchte ich Sie mitnehmen auf einen Herbstspaziergang durch die Geschichte des Wissenschaftsstandorts Dahlem, der am Anfang des 20. Jahrhunderts als Berliner „Oxford“ gegründet wurde.
Doch die historischen Standorte der Institute der ehemaligen Kaiser Wilhelm Gesellschaft , KWG (heute Sitz von Max-Planck-Gesellschaft und Teilen der Freien Universität), und des ehemaligen Reichsgesundheitsamtes sind nicht nur Zeugnisse großartiger wissenschaftlicher Leistungen und Orte des Wirkens von Nobelpreisträgern, sondern auch Orte des Schreckens und der Planung von Vernichtung menschlichen Lebens im Dritten Reich. An vielen der im Folgenden beschriebenen Gebäude sind Erinnerungstafeln angebracht, so dass es keiner großen Vorbereitungen bedarf, und Sie einfach so mit mir loszuziehen können.
Beginnen wir mit dem alten Reichgesundheitsamt Unter den Eichen 82 – 84 (zu erreichen mit S-Bahn/ S-Bahnhof Lichterfelde West oder Bus M 48): 1876 in der Berliner Innenstadt gegründet, zieht das „Kaiserliche Gesundheitsamt“ auf ein Feld der Königlichen Domäne Dahlem, das Dahlemer Dreieck. 1919 wird es zum Reichsgesundheitsamt. Ab 1936 wird hier eine „Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle“ eingerichtet. Diese lieferte die amtlichen Grundlagen, die zur Tötung und Zwangssterilisation Tausender Sinti und Roma führte. Heute ist das Bundesgesundheitsamt (BGA) verlassen. Nur das „Taubenhaus“ des UBA, ein modernes Gebäude, an dem verschiedenen Schädlinge wie Zecken, Schaben, Ratten und Tauben gehalten werden, um die Wirksamkeit und Sicherheit von Schädlingsbekämpfungsmitteln zu prüfen, arbeitet hier noch. 2011 zog die Nachfolgerorganisation des BGA, das „ Bundesinstitut für Risikobewertung“ nach Jungfernheide um. Im angebauten Gebäudeteil an der Thielallee sind seit Anfang des Jahres Asylbewerber untergebracht.
Wir biegen in die Boetticherstrasse ein und gehen bis zum Corrensplatz 1. Das Gebäude rechter Hand wurde 1913 als „Preußische Landesanstalt für Wasser-, Boden- und Lufthygiene“ (Architekt Alfred Kern, heute unter Denkmalschutz) gegründet und ist damit die erste und somit älteste Forschungsinstitution für Umwelthygiene in Deutschland. Es gehört heute zum Umweltbundesamt.
Gegenüber an der Ecke Garystrasse/Thielalle steht das KW-Institut für experimentelle Therapie/Biochemie. Dieser Bau stammt wie alle weiteren beschriebenen großen Gebäude vom Hofarchitekten Ernst von Ihne (1848-1917), der auch das Bode Museum und die alte Staatsbibliothek entworfen hat. Hier war August von Wassermann, dem 1906 der serologische Nachweis der Syphilis gelang, von 1913-1925 Direktor. 1936 wurde Adolf Butenandt, der spätere Nobelpreisträger (1939, Arbeit über Sexualhormone) Direktor des Biochemischen Instituts. In dem kleinen hübschen Pförtnerhaus davor leitete der 1945 vom Berliner Magistrat eingesetzte und dem Tode entronnene Robert Havemann die KW-Institute bis Juli 1949. Von ihm stammte die Idee der Neugründung der KW-Gesellschaft als „Deutsche Forschungshochschule“. Havemann war als Wissenschaftler NS- Widerstandskämpfer und saß in der Todeszelle des Zuchthauses Brandenburg (wie Erich Honecker), aus der er von der Roten Armee befreit wurde. Seine Rolle als Dissident mit Berufsverbot seit 1965 in der DDR ist bekannt.
Folgen wir der Thielallee , kommen wir zur Nr. 63, dem KW- Institut für Chemie, gegründet auf Anregung des Chemikers Nernst und gemeinsam mit dem benachbarten KW-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie 1912 in Anwesenheit des Kaisers eingeweiht. Das Chemische Institut besaß drei Abteilungen: anorganische Chemie (E.O. Beckmann); organische Chemie (R. Willstätter; Nobelpreis 1915 für die Aufklärung der Struktur des Chlorophylls) und Radioaktivität (Otto Hahn und Lise Meitner). Im Dezember 1938 gelang Hahn und Fritz Straßmann hier die Kernspaltung. Die kernphysikalische Auflösung erfolgte schriftlich durch Lise Meitner, die als Jüdin nach Schweden emigriert war. 1944 erhielt Hahn dafür den Nobelpreis, der er 1946 dann entgegen nehmen konnte. Heute ist hier der „Hahn-Meitner-Bau der Freien Universität“.
Jetzt biegen wir in den Faradayweg ein und kommen zum KW-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie . Direktor war Fritz Haber (Nobelpreis 1919, Ammoniaksynthese). Das Haus unterstand ab 1914 dem Kriegsministerium und hier entwickelten Haber und sein Team die Kampfgase (Phosgen und Chlor) für den chemischen Krieg auf den Schlachtfeldern Frankreichs. Der vor kurzen gezeigte Film „Immerwahr“ (2014) über den Freitod seiner Frau Clara geb. Immerwahr im Jahr 1915 (sie war die erste promovierte Chemikerin Deutschlands), zeigt die persönliche Dimension der Schuld Habers. 1933 emigrierte er als Jude nach England und starb 1934 in Basel, wo beide auch begraben sind.
An der Ecke Faradayweg/Hittorfstrasse und im weiterführenden Faradayweg befinden sich die Direktorenvillen Haber (Eckhaus) und Willstätter mit einer Berliner Erinnerungstafel. Das nächste Mal mehr!
Ihr mw
Fotos (c)mw
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Das ist ein interessanter und kenntnisreicher Spaziergang.
I.B.